Warum Nordkoreas Diktator Kim Jong-un kein Verrückter ist


Bei einem Blick in die internationale Presse fällt auf, dass Kim Jong-un sehr häufig mit so wenig schmeichelhaften Adjektiven wie „irrational“ oder „paranoid“ beschrieben wird. Es wird allgemein angenommen, dass Nordkorea gegen seine eigenen Interessen handelt, weil es von einem merkwürdigen, übergewichtigen Mann mit schlechtem Haarschnitt und seltsamen Ideen über die Welt regiert wird. Doch das Bild täuscht. Kim Jong-un sollte sicherlich auf seine Ernährung achten, aber bei politischen Entscheidungen verhält er sich so geschickt, wie schon sein Vater und Großvater.

Die meisten haben vergessen, dass die früheren Herrscher der Kim-Familie auch als „irrational“ bezeichnet wurden. Man hatte ihnen empfohlen, den Beispielen der rationalen und pragmatischen kommunistischen Führer János Kádár oder Michail Gorbatschow zu folgen. Doch heute sehen wir, was mit jenen passiert ist, die als Verkörperung der Vernunft galten: Sie wurden vor langer Zeit gestürzt und im Papierkorb der Geschichte entsorgt – vergessen und verschmäht, während die Kim-Familie noch immer ihr Leben in Palästen und unbegrenzte Macht genießt. Ihre Politik mag seltsam erscheinen, aber diese Menschen verlieren nie ihr wichtigstes Ziel aus den Augen: Ihr Handeln ist in erster Linie darauf ausgerichtet, am Leben und an der Macht zu bleiben. Bisher hat das perfekt funktioniert

Kim sieht sich drei Bedrohungen ausgesetzt, und seine Politik hat das Ziel, diese Bedrohungen zu minimieren.

Um zu verstehen, was Kim Jong-un tut und warum, muss man sich die größte Herausforderung für den nordkoreanischen Diktator vor Augen führen. In einfachen Worten ist das die Frage: Wer könnte ihn umbringen lassen oder stürzen? Kim sieht sich drei Bedrohungen ausgesetzt, und seine Politik hat das Ziel, diese Bedrohungen zu minimieren.

(1) Die erste Bedrohung ist ein Angriff von außen. Nordkorea wurde vom US-amerikanischen Präsidenten einmal als Mitglied der „Achse des Bösen“ bezeichnet, zusammen mit Irak. Die Amerikaner sind kurz darauf in den Irak eingefallen und haben seinen Staatschef abgesetzt und umgebracht. Kim Jong-un hat auch gesehen, was mit Muammar Gaddafi passiert ist, dem einzigen Diktator in der Geschichte, der bereit war, seine Atomwaffen für ein Sicherheitsversprechen und wirtschaftliche Vorteile aufzugeben. Westliche Spitzendiplomaten empfahlen der nordkoreanischen Führung daraufhin, sich an Libyen, dessen Staatschef eine solche Weisheit und Vernunft an den Tag gelegt hatte, ein Beispiel zu nehmen. Wie wir wissen, starb Gaddafi durch die Hände revolutionärer Kräfte, weil er seinen Hauptvorteil, die Luftwaffe, nicht nutzen konnte, nachdem ihm die NATO-Staaten eine Flugverbotszone aufgezwungen hatten. Hätte Gaddafi über Atomwaffen verfügt, wäre die Einmischung fremder Kräfte weniger wahrscheinlich gewesen. Nordkoreas Führung hat sicherlich ihre Lektion aus seinem Tod gelernt – auch wenn diese ganz anders aussah, als die von den westlichen Diplomaten 2004/2005 vorgeschlagene.

Kim Jong-uns Vater, Kim Jong-il, hatte verstanden: Um die Wahrscheinlichkeit zu minimieren, bei einer Invasion von außen zu sterben, wie Saddam Hussein in Irak oder wie Gaddafi in Libyen in Folge einer von außen unterstützten Revolution im Land, musste er Atomwaffen besitzen, die nicht Bestandteil von Verhandlungen sein durften – unabhängig davon, wie negativ sich das auf die eigene Wirtschaft auswirken würde.


(2) Die zweite Bedrohung ist eine Verschwörung der Elite. Kim Jong-un ist jung und unerfahren. Es besteht also die Gefahr, dass irgendein General der Meinung sein könnte, einen besseren Kim an die Macht bringen zu wollen. Seine Lösung ist, unter den Generälen Angst und Schrecken zu verbreiten und sicherzustellen, dass kein unabhängiger Politiker hochkommen kann, auch nicht aus dem Kreis seiner Familie. Aus diesem Grund führt er Säuberungsaktionen durch. Es wäre falsch von diesen Aktionen als einer „Herrschaft des Terrors“ zu sprechen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein durchschnittlicher Koreaner für politisches Fehlverhalten eingesperrt wird, ist nicht gestiegen, auch wenn sie natürlich noch immer größer ist als in anderen Ländern. Es sind vor allem Generäle und die Befehlshaber der Geheimpolizei, die unsicherer leben als früher.

Dies ist auch der Grund, weswegen Kim Jong-uns Halbbruder Kim Jong-nam hingerichtet wurde, und warum sein Onkel Jang Song-thaek vor ein Hinrichtungskommando gestellt wurde. Sie waren beide zu prominent und zu unabhängig und deshalb geeignet, das Zentrum einer Verschwörung zu werden.


(3) Die dritte Bedrohung ist der gute alte Volksaufstand, den es gilt, mit einer Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche zu verhindern. Auf der einen Seite hat Kim Jong-un unauffällig Reformen eingeleitet, die denen Chinas der späten 1970er Jahre ähneln. Auf der anderen Seite aber gibt es keine Anzeichen dafür, dass das Land liberalisiert werden soll (auch nicht in so moderater Form wie in China). Das Ergebnis ist, dass die Wirtschaft sich erholt und wächst, während die Menschen fügsam und verängstigt bleiben, und außerdem ausreichend isoliert von der Außenwelt und dem „gefährlichen“ Wissen über das Leben jenseits der Landesgrenzen. Bisher funktioniert das: Die Lebensumstände werden besser, und Kim Jong-un ist beim einfachen Volk recht beliebt. 


Vielleicht kann man sagen, dass diese Politik zynisch ist, aber was soll daran „irrational“ oder „paranoid“ sein? Kim Jong-un sieht sich einigen sehr realen Bedrohungen ausgesetzt, und er nimmt eine vernünftige, wenn auch etwas machiavellistische Haltung dazu ein. Er handelt rational, und er wird wahrscheinlich allen Widerständen zum Trotz überleben, wie schon sein Vater und sein Großvater – ob es uns gefällt oder nicht.